Ich bin Zuhörer
Ich bin Zuhörer.
Ich brauche Zeit.
Ich führe Gespräche. Ich stelle Fragen zu Lebensgeschichten und höre zu. Ich bin Empfänger. Und ich bin Sender. Ich reagiere auf die Erzählung und beginne von mir selbst zu erzählen. Ich muss senden, damit mein Gesprächspartner weiter sendet. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Es ist natürlich, aber es ist selten geworden. Weil es Zeit braucht – und eine Form, damit aus einem Reden wirklich ein Erzählen wird, und daraus eine Geschichte, die das Gegenüber erreichen und in ihm etwas auslösen kann.
Ich habe in fünf Jahren mit bald dreihundert Menschen darüber gesprochen, was sie vom Leben ihrer Grosseltern wissen. Und seit einigen Monaten frage ich Freunde und Unbekannte, wie sie erwachsen wurden und was sie von ihrem 21. Jahr erinnern. Vorgestern erzählte mir Dorothé von 1976. Gestern Frau Winterstein von 1945 und Frau Pohl von 1950. Und beim nächsten Besuch möchte ich Mareikes Erinnerungen an 1999 auch mit meinem Gerät aufnehmen können. Sie alle wissen, dass 1993 für mich ein enorm prägendes Jahr war und dass ich mich noch jetzt nicht ganz zu den Erwachsenen zähle. Aber nun muss ich verschwinden. Ich schneide meine Stimme heraus. Ich beginne zu komponieren – und wenn es gelingt, können meine Gesprächspartnerinnen die wildfremden Besucher meiner Arbeiten in intensive Zuhörer verwandeln. Wenn es gelingt, entsteht eine Konzentration, die zu Wesentlichem führt: zur Imagination und zur eigenen, ganz persönlichen Geschichte.
Wenn es gelingt, ist es ein Glück.
(28.01.2012)
Erzählt euch eine Geschichte
«Erzählt euch eine Geschichte.» So hat alles angefangen, Ende Juni 2000, beim Festival Theaterformen in Braunschweig und Hannover. Ich war Stipendiat bei der Sommerakademie «Moskauer Zeit», konnte erstmals Aufführungen von Alain Platel und Forced Entertainment sehen und zusammen mit russischen Theaterstudentinnen an einem Workshop von Jefgeni Grischkowez teilnehmen. «Erzählt euch eine Geschichte», so lautete seine erste Aufgabe, die mich nervös und ratlos machte. Ich war nur ein Theaterwissenschaftsstudent aus der Schweiz, der endlich seine Abschlussarbeit anpacken sollte und keine Ahnung hatte, was danach werden könnte. Ich dachte, dass ich im Vergleich mit den Studierenden aus Russland nichts Interessantes zu erzählen hätte. Ich dachte, dass ich keine Geschichte habe. Aber meine Großmutter hatte eine. Und so erzählte ich, wie die Professorentochter aus Bern in den 1930er Jahren nach Afrika reiste und sich dort in einen Schweizer Bauernsohn verliebte, der nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause aufgewachsen war, aber mit dem sie in der Heimat nie hätte zusammenkommen können. Damals hat für mich nichts darauf hingedeutet, dass ich neun Jahre später in der Cumberlandschen Galerie «Meine Grosseltern | Erinnerungsbüro» würde zeigen können, mein erstes eigenes Langzeitprojekt. Damals spürte ich nur, wie ich im Laufe der zehn Festivaltage aufblühte. Und jetzt, wo ich die Programmzettel und Notizen von damals hervorgesucht habe, spüre ich wieder den Moment, als ich die zwei einfachen Sätze formulierte, die alleine auf einer vollgeschriebenen Rückseite stehen: «Ich bin glücklich. Ich lebe.»
Dieser erste Besuch des Festivals Theaterformen gehört zu den wichtigsten Ereignissen meines Lebens. In diesem Sommer liegt er fünfzehn Jahre zurück, aber er wird auch in diesem Sommer zu meiner Gegenwart gehören. Er wird wieder aufleben, wenn ich auf denselben Plätzen und in denselben Räumen stehe, und zugleich wird er sich mit neuen Erlebnissen zu einer neuen Geschichte vermischen, wie schon so oft seither. Dieses Festival ist für mich wie kein anderes zum Lieux de mémoire geworden, zur Erinnerungslandschaft. Im Park zwischen großem und kleinem Haus in Braunschweig oder auf der Treppe zur Cumberlandschen Galerie in Hannover: Überall sind Erinnerungen an erste Male gespeichert, überall gibt es Jahresringe, Überlagerungen und Fortschreibungen. Jedes Mal, wenn ich in Hannover aus dem Zug steige, muss ich auf dem Bahnsteig kurz innehalten. Ich habe einen Termin, ich werde erwartet, gleich geht es um die nächsten Arbeitsschritte – aber gerade noch nicht, zuerst habe ich eine Verabredung mit der Vergangenheit. Es gibt inzwischen so viele Erinnerungen an Hannoverbesuche, dass ich nie weiß, welche mir auf diesem Bahnsteig als erste in den Sinn kommen wird. Ich lasse mich überraschen. Ich bleibe stehen, ich atme aus und schon ist ein Moment da, ein Gefühl von damals, als ich noch nicht wissen konnte, dass es diesen Moment heute geben wird. Ich schaue, wie weit weg mir jener Moment nun vorkommt, wie nahe er mir geht. Dann lasse ich ihn ziehen, nehme meinen Koffer und gehe Richtung Ausgang. Doch bevor ich ganz im Jetzt ankomme, sehe ich nun seit sechs Jahren immer wieder, immer noch, wie in der Bahnhofshalle von den Treppen aus dem Untergrund der Chor der Migranten emporsteigt: die singenden Gesichter aus Niemandsland – ich könnte nicht mehr sagen, was sie 2009 gesungen haben, aber sie sind mir in Mark und Bein geblieben.
In diesem Sommer kann ich zum fünften Mal eine Arbeit bei den Theaterformen zeigen. Weil hier schon so vieles weitergehen konnte, fühlt sich jeder Besuch vielversprechend an. Es wird nicht bei der Wiederbegegnung mit der Vergangenheit bleiben, es wird etwas Neues geschehen, etwas, von dem ich dann vielleicht noch nicht ahnen kann, was es in Zukunft alles auslösen wird, aber etwas, das ich gerade bei diesem Festival jedes Mal wieder für möglich halte: ein Erlebnis, das mich aufblühen lässt, eine Begegnung, bei der ich von Neuem sagen kann: «Ich bin glücklich. Ich lebe.»
(22.02.2015)
Wichtige Bücher (seit 1991)
Emilie Pine, Notes to Self (2021)
Colum McCann, Apeirogon (2020)
Maggie Nelson, Die roten Stellen (2020)
Robert Macfarlane, Karte der Wildnis (2019)
Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah (2019)
Maria Stepanova, Nach dem Gedächtnis (2018)
Emanuele Coccia, Die Wurzeln der Welt (2018)
Teju Cole, Known and Strange Things (2018)
Helen Macdonald, H wie Habicht (2016)
Emanuel Carrère, Alles ist wahr (2016)
Navid Kermani, Dein Name (2015)
Tomas Espedal, Wider die Natur (2014)
Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther (2014)
Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur (2013)
Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit (2013)
David Van Reybrouck, Kongo (2012)
Jennifer Egan, Der grössere Teil der Welt (2012)
Friedrich Glauser, Man kann sehr schön mit Dir schweigen (2011)
Per Olov Enquist, Ein anderes Leben (2009)
Peter Kurzeck, Oktober und wer wir selbst sind (2008)
Sophie Calle, M’as-tu vue? (2007)
Philip Roth, Mein Leben als Sohn (2006)
Carlo E. Lischetti, Ich bin mein Beruf (2006)
Uwe Johnson, Jahrestage (2004–2005)
Wolfgang Büscher, Berlin–Moskau (2003)
Don DeLillo, Körperzeit (2002)
Nicolas Bouvier, Die Erfahrung der Welt (2002)
W.G. Sebald, Schwindel. Gefühle (2001)
Joseph Brodsky, Erinnerungen an Leningrad (2000)
Gerhard Meier, Das dunkle Fest des Lebens (1999)
Robert Walser, Geschwister Tanner (1999)
Marie Luise Kaschnitz, Wohin denn ich? (1998)
Natalia Ginzburg, So ist es gewesen (1998)
Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes (1997)
Ingeborg Bachmann, Malina (1997)
John Berger, Von ihrer Hände Arbeit (1996)
Paul Auster, Das rote Notizbuch (1996)
Friedrich Glauser, Der alte Zauberer (1995)
Paul Nizon, Am Schreiben gehen (1994)
Friedrich Dürrenmatt, Stoffe (1993)
Cees Nooteboom, Das Paradies ist nebenan (1993)
Markus Werner, Die kalte Schulter (1993)
Chaim Potok, Mein Name ist Asher Lev (1992)
Else Lasker-Schüler, Styx (1991)
(21.05.2021)